Erfahrungsbericht Twitter im Unternehmen
Tags: community management, ids scheer, rechtlich, web20
Kategorie Web | 9 Kommentare »
Seit einigen Monaten trage ich zum offiziellen Twitter Account der IDS Scheer eigene Tweets (also Twitternachrichten) bei. Der eine oder andere würde sich sicher freuen, wenn er dafür bezahlt wird, twittern zu dürfen :-) Zeit für einen ersten Rückblick…
Wichtig vorneweg: Das Gesagte hier ist meine ganz persönliche Auffassung und nicht die meines Arbeitgebers IDS Scheer!
Wie alles, was ein Unternehmen tut, muss auch das Twittern ökonomisch gerechtfertigt sein. Der Einsatz von Twitter muss einen Mehrwert bieten, damit die dafür benötigte Zeit gerechtfertigt ist. Unternehmen mit einer täglich verfügbaren Dienstleistung wie die Lufthansa oder die Deutsche Bahn haben es hier leicht. Sie können über Twitter ihre Kunden über Störungen im Betriebsablauf zeitnah informieren. Das Beratungs- und Produktgeschäft der IDS Scheer ist anders. Es gibt keine Meldungen aus dem Tagesgeschäft (z.B. Berater steht im Stau oder ARIS ist bei Firma XYZ abgestürzt), die eine Vielzahl von Menschen interessiert.
Im Fall der IDS Scheer bietet das operative Tagesgeschäft also keine Quelle für nützliche Tweets. Ein Blick bei ähnlichen Unternehmen (Beratung und Softwarevertrieb) wie SAP und Oracle zeigt, dass diese Unternehmen primär Produktankündigungen, Pressemitteilungen und Fallstudien über ihre Twitter Accounts verbreiten. Aufgrund der Größe dieser Unternehmen gibt es dann auch fast täglich sinnvolle Meldungen, die noch über mehrere Accounts verteilt werden (z.B. nur deutsche Tweets). Bei einem wesentlich kleineren Unternehmen wie der IDS Scheer ist dies nicht der Fall.
Ein wichtiges aktuelles Argument für Twitter ist, dass es momentan einfach angesagt ist und man es deshalb tun muss. Die notwendige Investition ist relativ gering, aber definitiv nicht null. Mögliche Kostenquellen sind:
- Administration des Accounts, etwa Beschreibung pflegen
- Gestaltung des Accounts (Hintergrundbild im Corporate Design)
- Evaluierung und Auswahl geeigneter Anwendungen
- Schulung der Mitarbeiter, die twittern sollen
- Integration des Twitter Angebots in existierende Webangebote
- klassische Kommunikation und Marketing für den eigenen Twitter Account (z.B. Pressemitteilung und Mailings)
- Twitter Marketing
- Arbeitszeit für das Veröffentlichen von Tweets
- Identifizierung und Überwachung von gefälschten Accounts
- Blocken von Spam Followern
Im Fall der IDS Scheer kam begünstigend hinzu, dass zur gleichen Zeit, als der Twitter Account angelegt wurde, auch die ARIS Community gestartet wurde. Deshalb wurde der offizielle Twitter Account auch @ariscommunity genannt. Durch diese Verknüpfung mit der ARIS Community ergibt sich zusätzlicher Inhalt für nützliche Tweets, da nun auf aktuelle Diskussionen oder Beiträge in der ARIS Community verwiesen werden kann. Hier besteht allerdings die Gefahr, dass der Twitter Account zu einem reinen URL Ankündigungskanal verkommt, der kein großes Interesse weckt.
Um diesen Problem vorzubeugen, wird im Fall von @ariscommunity versucht, andere Tweets aufzugreifen und Diskussionen zu entwickeln. Dies wird allerdings dadurch erschwert, dass der Twitter Account anonym als @ariscommunity auftritt und sich durch diese Entpersonalisierung kein echter Dialog entwickeln kann. Die Alternative wäre, dass jeder Mitarbeiter, der heute den Twitter Account mitbetreut, einen eigenen Account eröffnet. Dies mag zwar zu einer besseren Interaktion führen, hat aber wahrscheinlich auch zur Folge, dass die Accounts seltener aktiv sind und weniger Follower (Leser) haben.
Bei der Betreuung eines Twitter Accounts durch mehrere Personen gibt es auch ein paar praktische Probleme. Um effektiv zu twittern, nutzt man eine Anwendung wie TweetDeck. Diese Anwendung wiederum nutzen das öffentliche API von Twitter. Pro Stunde dürfen pro Account nur eine begrenzte Anzahl von Anfragen an die Twitter API abgesandt werden (ich glaub 150). Wenn mehrere Personen die Twitter Anwendung gleichzeitig nutzen, müssen sich diese Anwendung die verfügbaren API Aufrufe teilen. Das führt dazu, dass spätestens nach 30 Minuten alle API Aufrufe für die aktuelle Stunde verbraucht sind und man somit für 30 Minuten keine Aktualisierungen bekommt. Diese ungewollte Funkstille führt ein Echtzeitmedium ad absurdum.
Im Netz wird immer wieder darüber gelästert, dass Unternehmen umfangreiche Freigabeprozesse auch für Twitter Meldungen haben. Dies ist natürlich lächerlich, denn so kann es im täglichen Leben nicht funktionieren. Hier ist vielmehr die Eigenverantwortung der Twitterer im Unternehmen gefordert, damit kein Freigabeprozess nötig ist. Dies ist nicht immer ganz leicht, selbst bei besten Absichten der einzelnen Twitterer. Darf ein Unternehmen z.B. in seinem Twitter Feed auf ein Analystendokument verweisen, selbst wenn es nicht für die öffentliche Freigabe des Dokuments die Analystenfirma bezahlt hat (hier geht es um viel Geld)? Was passiert rechtlich, wenn eine Twitter Mitteilung des Unternehmens falsch interpretiert wird und Bewegungen an der Börse auslöst? Muss das Unternehmen in diesem Fall haften, da es nicht zuerst die typischen Börsenkanäle (ad-hoc Mitteilung) bestückt hat?
Gerade in Zeiten von Unternehmensübernahmen, wie die Übernahme der IDS Scheer durch die Software AG, sind dies extrem relevante Fragen. Darf man z.B. schon über Angebote oder Seiten des anderen Unternehmens twittern oder gilt dies als Absprache zwischen Konkurrenten, da die rechtlich Übernahme noch nicht erfolgt ist?
Neben diesen rechtlichen Fragen ist auch zu klären, ob die eigentliche Zielgruppe erreicht wird. Die externe Kommunikation eines Unternehmens richtet sich an verschiedene Parteien, wie:
- Kunden und zukünftige Nutzer
- Presse
- Partner
- Konkurrenz (Angst machen)
- Finanzinvestoren
- Finanzanalysten
- Marktanalysten
Nicht zu unterschätzen ist auch, dass sich viele Mitarbeiter über die externen Kommunikationskanäle über das eigene Unternehmen informieren.
Leider kann ich nicht jeden Follower des @ariscommunity Twitter Accounts eindeutig einordnen, aber mein Gefühl sagt mir, dass die wenigsten davon Kunden bzw. ARIS Nutzer sind. Unter den Followern finden sich primär Menschen, die selbst sehr aktiv im Umgang mit dem Web sind wie Analysten, Marketing, Partner und technisch interessierte Mitarbeiter.
Prinzipiell ist es gut, wenn Analysten, Partner, eigene Mitarbeiter und Mediatoren sich über die Firma informieren. Der Einsatz von Twitter und die damit verbundene Investition würde sich aber wesentlich besser rechtfertigen lassen, wenn auch eine Vielzahl von Kunden über Twitter erreichbar sind. Dass dies noch nicht der Fall ist, liegt sicherlich auch daran, dass Twitter noch nicht in der Breite angekommen ist. Es wird auch interessant zu beobachten sein, ob die Nutzung von Twitter in Deutschland jemals so stark sein wird, wie zum Beispiel in den USA oder ob es hier kulturelle Unterschiede gibt.
Damit Twitter nützlicher für Unternehmen wird, muss es noch einige Hausaufgaben erledigen. Man würde zum Beispiel erwarten, dass Accounts eine Echtheitsprüfung bekommen, damit nicht jeder im Namen eines beliebigen Unternehmens twittern kann. Dies wurde bis jetzt erst bei einigen wenigen sehr prominenten Accounts gemacht. Weiterhin muss die Stabilität von Twitter massiv verbessert werden. Es sollte auch (kostenpflichtige) Profiaccounts geben, bei denen wesentlich mehr API Aufrufe pro Stunde möglich sind, damit man einen Account sinnvoll durch mehrere Mitarbeiter betreuen kann. Es werden zusätzliche Profitools benötigt, damit man zum Beispiel die Nutzung bestimmter Schlüsselwörter in anderen Tweets überwachen kann. Dafür gibt es bereits heute eine Reihe von externen Anbietern, aber bis jetzt muss man noch zu viele unterschiedliche Dienste nutzen, was wenig effizient ist und die Lernkurve unnötig erhöht.
Bleibt die Frage, wie ich den Twitter Einsatz persönlich beurteile? Die aufgeführten Punkte zeigen, dass es noch viele Stellen gibt, die zu klären sind, angefangen von rechtlichen Problemen bis hin zu technischen Unzulänglichkeiten. Auf der anderen Seite führt die Nutzung von Twitter zu messbar höheren Zugriffszahlen auf Seiten, die in Tweets erwähnt werden. Allerdings ist nicht gesagt, dass diese Zugriffe auch relevant sind. Bei mir bleibt also ein gemischtes Gefühl zurück. Es muss sich erst noch zeigen, ob Twitter nicht bloß eine schnell vergängliche Modeerscheinung ist oder ob sich damit Wert schaffen lässt.
Eine sehr umfassende Analyse wie ich finde. Ich bin hauptberuflich bei einem öffentlichen Arbeitgeber beschäftigt, da sind lange Freigabeprozesse ebenfalls vorprogrammiert. Die optimale Nutzung des Echtzeitmediums Twitter wird dadurch leider im Voraus blockiert.
Besonders wichtig finde ich, dass die rechtlichen Problematiken angesprochen wurden.
Als ich die Überschrift las, dachte ich es ginge um das Twittern im Unternehmen, also in etwa: Jeder Mitarbeiter hat einen Account und die Nachrichten sind nur Intern zu lesen.
Ich dachte da würden dann so Nachrichten ausgetauscht wie: „Funktion Klasse.GetX() ist schneller als Klasse.GetSlowX()“
oder
„Suche das Buch ‚C++ für Taschenrechner'“
@Torsten: Naja, im Fall der IDS Scheer gibt es keinen aufwendigen Freigabeprozess, sondern es wird den Mitarbeitern vertraut, die mit Twittern beauftragt sind.
@Martin: Sorry, mir fiel keine bessere Überschrift ein. Ein Artikel, der dich dann vielleicht mehr interessiert ist:
http://www.ariscommunity.com/users/mrosemann/2009-08-07-where-bpm-and-twitter-could-meet
[…] 5.9.09: Sebastian Stein arbeitet bei IDS Scheer und berichtet in seinem Blog über seine Erfahrungen mit Twitter in der Unternehmenskommunikation. Anti-Pattern: Funktionsdeutsch Gutes realtime Feedback in Mindmanager Dein […]
Sehr interessanter Post. Ich habe mir letzte Woche auf dem Barcamp Stuttgart eine Session von otto.de angesehen. Dort wird Twitter größtenteils als Service-Kanal genutzt um unzufriedene Kunden einzufangen und zu „drehen“.
Siehe auch diesen Post:
Twitter bei Otto (Teil 1)
Als Tool wir bei Otto CoTweet eingesetzt. Anscheinend optimal um einen Account mit mehreren Leuten gemeinsam zu betreuen: http://cotweet.com
Schau mal auf http://www.trendopfer.de/wahrheit/2009/08/wenn-unternehmen-twittern/ . Jetzt hoffe ich bloß noch das mich der Spamfilter durchläßt.
Feiner Artikel. Es gibt schon eine Menge von Unternehmen, die vieles richtig machen (Otto). Von sehr kleinen Unternehmen kann man eine komplette Social Media Strategie nicht erwarten, aber dagegen von „Riesen“ wie Lufthansa.
Grüße
[…] Dieser Eintrag wurde auf Twitter von Vincent Hose erwähnt. Vincent Hose sagte: https://sebstein.hpfsc.de/2009/08/25/erfahrungsbericht-twitter-im-unternehmen/ […]